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07.06.20 –
- Die Oranienburger Polizei schickt eine Fahrradstreife durch die Stadt – aber nicht, um für einen fahrradfreundlichen Verkehr zu sorgen, sondern um Fahrradfahrer zu erziehen. Läuft da nicht etwas falsch, fragt sich das Oranienburger Grünen-Mitglied Henning Schluß in einem Leserbrief an den Generalanzeiger, den wir hier dokumentieren
Hier der link zum Artikel
Oranienburg, den 7.6.2020 – Als ich heute die Zeitung aufschlug, freute ich im mich sehr. Ein großes Bild mit einer Polizistin und einem Polizisten auf dem Fahrrad und das nicht in Berlin, sondern klar erkennbar in Oranienburg. Endlich, dachte ich, die Polizei wagt auch in Oberhavel den Perspektivwechsel, geht aus der fahrenden Festung Auto heraus und traut sich aufs Fahrrad, um wahrzunehmen, wie sich der Verkehr aus der Perspektive der verletzlichen Verkehrsteilnehmer_innen darstellt.
Eine hervorragende Reaktion auf den 5. tödlichen Unfall mit rechtsabbiegenden LKW in Berlin allein in diesem Jahr, der ausgerechnet am Tag des Fahrrades vor zwei Tagen in Berlin einer 62-jährigen Frau das Leben kostete. Auch in Oranienburg hatten wir ja diese bittere Erfahrung machen müssen. Besonders wichtig schien mir dies, weil vielen Autofahrenden die seit April geltenden neuen Regeln den Radverkehr betreffend noch nicht bewusst sind. So überholen längst nicht alle Autos mit den innerorts gefordertem Mindestabstand von 1,50 m (die auch da gelten, wo Radstreifen aufgemalt sind). Radfahrstreifen werden nach wie vor als Parkplätze oder zumindest Haltebuchten genutzt, ohne dass Sanktionen bislang erkennbar wären.
Nun also würde eine Fahrradstreife auch diese den Verkehr behindernden Autofahrer auf ihr Fehlverhalten aufmerksam machen, das ausgerechnet die schwächeren Verkehrsteilnehmer weiter gefährdet. Dann jedoch las ich die Überschrift und traute meinen Augen nicht. Die Aufgabe der Fahrradstreife sei es, das Fehlverhalten von Fahrradfahrer_innen zu kontrollieren. Der Artikel bringt das Kunststück fertig, das Wort Auto, oder LKW nicht einmal zu erwähnen.
Die Zahl der Unfälle sei nach der Logik der Polizei, wie sie im Artikel beschrieben wird, deshalb gestiegen, weil: „Die Polizei habe festgestellt, dass – vermutlich durch die Corona-Krise noch verstärkt – mehr Menschen mit Fahrrädern unterwegs sind. Das habe auch die Zahl der Unfälle mit Radfahrern ansteigen lassen." Dabei sagen alle Verkehrsforscher_innen, das genau das Gegenteil der Fall ist, je selbstverständlicher Radfahrende im Verkehr sind und Autos mit ihnen rechnen müssen, umso mehr sinkt prozentual die Zahl der Unfälle.
Hier soll nicht bestritten werden, dass auch Radfahrende sich nicht an die StVO halten. Als Radfahrender erlebt man es aber täglich, dass man angehupt wird, WEIL man sich an die StVO hält, weil Autofahrende z.B. davon ausgehen, dass man als Radfahrer_in auf dem Fußweg zu fahren habe, weil sie die Schilder falsch interpretieren und dann bestenfalls angehupt, schlechtestenfalls abgedrängt wird. Auch falsche Beschilderung trägt dazu bei.
Beinahe zynisch mutet da die Aufgabenbeschreibung der radfahrenden Polizisten an, von denen gesagt wird, sie "verweisen gern darauf, dass Radfahrer gegenüber Kraftfahrzeugen die deutlich schwächeren Verkehrsteilnehmer sind". Das muss man Radfahrenden in der Regel nicht sagen, denn sie erfahren täglich, dass sie im Straßenverkehr ihr Leben riskieren, im Unterschied zu den Menschen in ihren fahrenden Festungen, die auch dann noch überleben, wenn sie reihenweise schwächere Verkehrsteilnehmer ums Leben gebracht haben, wie der schwere Unfall in der Invalidenstraße in Berlin im letzten Jahr zeigt. Von daher gibt es durchaus ein gesundes Eigeninteresse der Radfahrenden, möglichst unverletzt durch die Stadt zu kommen.
Dass dies nicht einfach ist, weil die Stadt Oranienburg in der Förderung des Radverkehrs durchaus noch Ausbaupotential hat, ist offensichtlich. So haben Radfahrende z.B. seit dem Umbau der Kreuzung an der Straße der Einheit/Bernauer Straße die gefährliche Radstreifenmarkierung beklagt, die plötzlich im Nichts endet und Autofahrende nicht damit rechnen, dass Radfahrende an dieser Stelle auf die Straße ausschwenken, was sie aber, laut StVO tun sollen. Nun hat selbst der Landkreis Oberhavel die Stadt Oranienburg Anfang des Jahres ultimativ aufgefordert, diese Markierung bis zum 30.5. 2020 weitgehend zu entfernen. Geschehen ist genausowenig, wie an der Fischerstraße, wo längst auch der Landkreis angeordnet hat, dass der gemeinsame Fuß und Radweg an der Bernauer Straße nach der StVO nicht zulässig ist.
Während in Berlin pop-up Radwege aus dem Boden gestampft werden, um Radfahrende zu schützen, wird in Oranienburg nichtmal das umgesetzt, was vom Kreis ultimativ angeordnet worden ist. Stattdessen wird die Polizei eingesetzt, um Radfahrende zu kontrollieren. Ich bitte darum, nicht falsch verstanden zu werden, hier soll nicht Fehlverhalten von Radfahrenden im Straßenverkehr entschuldigt werden. Es ist völlig o.k., dass die Polizei auch Radfahrende auf ihr Fehlverhalten hinweist. Dass sie sie als Opfer aber einseitig auch als die Schuldigen in den Blick nimmt, das bezeichnet man als victim blaming und bedeutet die Strategie, den Opfern die Schuld an einem Vergehen zuzuschreiben. Ich erwarte von der Polizei, dass sie sich von solchen Strategien endgültig verabschiedet, nicht nur was rassistische Übergriffe, Vergewaltigungsopfer, sondern auch was die schwächeren Verkehrsteilnehmer_innen angeht. Die Polizei darf nicht auf einem Auge blind sein. Sie muss Vergehen da verfolgen, wo sie sie sieht und darf nicht nur die Gruppe der Verkehrsteilnehmer in den Blick nehmen, die am leichtesten Opfer von Verkehrsvergehen werden.
Letztlich aber bin ich überzeugt, dass die Polizeistreife eine gute Sache ist. Selbst wenn die Radstreife mit dem festen Vorsatz an den Start geht, nur Radfahrende zu kontrollieren und zu ermahnen, wird sie allein durch den Perspektivwechsel, vom Auto heraus auf das Fahrrad feststellen, wie vulnerabel Radfahrende sind, wie es zu ihrem Alltag gehört, im Verkehr von den PS-starken und raumgreifenden PKWs ignoriert zu werden. Möglicherweise trägt das zu einer Veränderung der Wahrnehmung bei. Radfahrende könnten so nicht mehr nur als Störung des Verkehrs, sondern als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer_innen erkannt werden und die Fahrradstreife könnte die Schwierigkeiten entdecken, sich angesichts dauernd wechselnder Beschilderungen in der Stadt überhaupt StVO-gerecht zu verhalten. (Mal gibt es sie noch, die gemeinsamen Geh- und Radwege, mal sind sie abgeschafft, wie es die StVO im Regelfall vorsieht, mal sollen Radfahrende im Kreisverkehr mitfahren, mal drum herum. Mal müssen sie da die Vorfahrt der Autos beachten, mal sind sie gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer_innen – kaum jemand blickt da in Oranienburg durch.)
Ich bin gespannt, was die Fahrradstaffel nach einem halben Jahr Einsatz in Oberhavel berichtet und ich bin sehr zuversichtlich, dass sich ihre Perspektive erweitert hat und sie die Schuldfrage an Verkehrsunfällen mit Radfahrenden nicht mehr nur bei diesen verortet. Andererseits aber sollte eben diese Form des victim blaming bereits mit der Ausbildung ausgeschlossen sein. Wir dürfen also gespannt sein, auf die Erfahrungsberichte der Fahrradstaffel in Oberhavel in einem halben Jahr.
Prof. Dr. Henning Schluß (der Autor ist Mitglied des ADFC und des VCD und beschäftigt sich schon länger mit Verkehrsthemen in Oranienburg, insbesondere auch Fragen des Verkehrssicherheit von Radfahrenden)
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